Während er die Dorfstraße entlangging, schaute Jury noch einmal auf der Skizze, die Pluck für ihn angefertigt hatte, nach dem Kreuz, das das Haus der Rivingtons kennzeichnete. Hätte man doch nur eine Viertelstunde nach dem Mord all diese Leute in einem Raum zusammentreiben können, eine große Familie, die betreten vor ihrem Tee saß, während die Dienerschaft in der Küche eines geheimnisumwitterten Landhauses hockte. Alle auf einem Haufen. Statt dessen mußte er halb Northants abklappern, und die Fährte war schon so alt, daß selbst ein trainierter Bluthund nichts gerochen hätte. Er ließ seine Blicke die Dorfstraße entlangwandern, sah die bonbonfarbenen Häuser in der Wintersonne aufleuchten, deren Strahlen von den verschneiten Dächern reflektiert wurden, und einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, in eine Märchenstadt versetzt worden zu sein.
Das Haus der Rivingtons war das eindrucksvolle Tudor-Gebäude an dem Platz gleich hinter der Brücke. Als er etwas näher herankam, konnte er von dem Höcker der Brücke aus erkennen, daß es eigentlich zwei zusammengebaute, ziemlich große Häuser waren.
Isabel Rivington trug an diesem Vormittag eine weiße Seidenbluse und ein kamelhaarfarbenes Kostüm, in dem sie genauso elegant aussah wie am Tag zuvor. Die etwas handfestere Sheila Hogg war jedoch eher nach Jurys Geschmack. Diese hier erinnerte ihn an einen Piranha, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn er die Wohnung mit ein paar Fingern weniger verlassen hätte.
«Ich hoffe, auch Ihre Schwester anzutreffen – Vivian, so heißt sie doch?»
«Sie ist im Pfarrhaus.»
«Ach.»
«Können Sie sich daran erinnern, Small an dem Abend, an dem er ermordet wurde, noch vor dem Essen in der Bar gesehen zu haben?»
Nachdem sie Jury aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, zog sie eine Zigarette aus einem Porzellanbehälter und beugte sich etwas zu dem Streichholz vor, das er ihr hinhielt. Sie schien es nicht gerade eilig zu haben. «Falls es der Mann war, der mit Marshall Trueblood zusammensaß, ja. Dann muß ich ihn wohl gesehen haben, aber er ist mir nicht weiter aufgefallen. Die Bar war ziemlich voll.»
«Und Sie gingen nicht in den Keller, nachdem man seine Leiche dort gefunden hatte?»
«Nein.» Sie schlug ihre schimmernden Beine übereinander, und auf dem einen erschien ein goldener, vom Widerschein des Feuers erzeugter Streifen. «Ich bin nicht gerade tapfer in solchen Situationen.»
Jury lächelte. «Wer ist das schon? Ihre Schwester ist aber runtergegangen.»
«Vivian? Oh, Vivian ist –» Sie zuckte mit den Schultern, als nehme sie die seltsame Vorliebe ihrer Schwester für Leichen nicht besonders ernst.
«Sie ist auch nicht meine richtige Schwester. Wir sind Stiefschwestern.»
«Sie verwalten das Vermögen Ihrer Schwester?»
«Barclay’s Bank und ich, Inspektor. Was hat das mit der Ermordung von zwei Unbekannten zu tun?» Sie schien eine Antwort zu erwarten.
Er überging jedoch ihre Frage. «Sie können also nicht frei über das Geld verfügen?» Die gelangweilte Duldermiene zeigte nur mühsam unterdrückten Ärger. «Und wann kommt sie in den Genuß des Vermögens?» fragte Jury.
Ihr schweres Goldarmband schlug klirrend gegen den Aschenbecher, als sie ihre Zigarette abklopfte. «Mit dreißig.»
«Ziemlich spät, finden Sie nicht auch?»
«Ihr Vater – mein Stiefvater – war noch von der alten Sorte. Frauen können nicht mit Geld umgehen und so weiter. Sie hätte es aber bekommen, wenn sie geheiratet hätte. So stand es in dem Testament. Andernfalls erst mit dreißig.»
«Und wann wird sie dreißig?» Die Tatsache, daß sie so angestrengt an ihm vorbeischaute, bewies Jury, daß er einen wunden Punkt berührt hatte. Etwas an Isabel Rivington, etwas Zügelloses, Ausschweifendes, hatte seine instinktive und spontane Abneigung erweckt. Sie sah zwar gut aus, aber ihre Tranigkeit verriet eine Vorliebe für süße Liköre und zu viele Martinis. Ihre Haut hatte noch nicht darunter gelitten; sie war feinporig und straff und, wie ihre Hände, sehr gepflegt. Die Nägel waren in einem modischen Braunrosa lackiert und so lang, daß die Spitzen sich schon zu krümmen begannen. Einen Mann mit solchen Nägeln zu erwürgen, ohne irgendwelche Kratzspuren zu hinterlassen, dürfte ziemlich schwierig sein, dachte Jury. Manchmal fragte er sich, ob der Teil seines Gehirns, der solche Details registrierte, auch wenn er über ganz andere Dinge sprach, nicht einfach zugefroren und für menschliche Regungen taub war – eine Falle, die Fakten konservierte wie Fliegen in Bernstein.
«Vivian wird ungefähr in einem halben Jahr dreißig.»
«Kann sie dann mit ihrem Geld tun und lassen, was sie will?»
Irritiert drückte Isabel ihre Zigarette aus; der Stummel löste sich dabei völlig auf. «Warum wollen Sie mir partout irgendwelche Machenschaften unterschieben?»
Die Unschuld in Person, fragte Jury: «Klang das so? Ich wollte mich eigentlich nur ein bißchen informieren.»
«Mir ist immer noch nicht klar, was das mit den beiden Männern zu tun hat, die hierherkamen und dann um die Ecke gebracht wurden.»
«Wie lange wohnen Sie schon in Long Piddleton?»
«Sechs Jahre», antwortete sie und nahm verärgert eine Zigarette aus einem Silberetui.
«Und davor?»
«In London», antwortete sie kurz und bündig.
London, dachte Jury, hat Long Piddleton wirklich entdeckt. «Nicht gerade das gleiche Leben.»
«Ist mir auch schon aufgefallen.»
«Vivians Vater – der Vater Ihrer Stiefschwester, war wohl ziemlich vermögend?»
Wieder mit dem Thema konfrontiert, drehte sie abrupt den Kopf zur Seite und gab keine Antwort.
«Er hatte einen Unfall, nicht? Ich meine, Miss Rivingtons Vater?»
«Ja, als sie ungefähr sieben oder acht war. Ein Pferd, das plötzlich ausschlug, hat ihn getötet. Er starb auf der Stelle.»
Jury bemerkte, daß in ihrem kurzen Bericht kein großes Bedauern mitschwang. «Und ihre Mutter?»
«Sie starb gleich nach Vivians Geburt. Meine Mutter ist etwa drei Jahre, nachdem sie James Rivington geheiratet hatte, gestorben.»
«Ich verstehe.» Jury beobachtete, wie sie das linke Bein über das rechte und dann das rechte über das linke Bein schlug und dabei nervös die Hand mit der Zigarette nach dem Aschenbecher ausstreckte. Er beschloß, einen Versuchsballon loszulassen. «Ihre Stiefschwester und Mr. Matchett werden bald heiraten, stimmt das?» Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber es verschaffte ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Hand verharrte über dem Aschenbecher, während der Kopf sich blitzschnell nach ihm umdrehte; die Füße schienen mit dem Boden verwachsen zu sein. Dann glätteten sich jedoch ihre Züge wieder, und eine ausdruckslose Gleichgültigkeit gewann die Oberhand. Jury fragte sich, ob sie wirklich nur freundschaftliche Gefühle für Simon Matchett hegte.
«Woher haben Sie das?» fragte sie beiläufig. Jury wechselte sofort wieder das Thema. «Erzählen Sie mir mehr über den Unfall, den James Rivington hatte.»
Sie seufzte, eine Frau, die mit ihrer Geduld bald am Ende war. «Es passierte während der Sommermonate in Schottland. Als ich in den Schulferien dort war. Mein Gott, wie ich es haßte – Sutherland. Im Norden Schottlands. Ein gottverlassener Ort, an dem einem der Wind um die Ohren pfiff – es gab dort nichts zu tun, außer die Felsen, die Bäume und das Heidekraut zu zählen. Für mich das reinste Niemandsland. Abgesehen von einer alten Köchin konnten wir auch keine Hausangestellten mitnehmen. Sie, das heißt Vivian und James, fanden es wundervoll. Vivian hatte ein Pferd, das ihr besonders ans Herz gewachsen war; es war zusammen mit den andern im Stall untergebracht. An einem Abend hatten sich Vivian und ihr Vater wieder einmal furchtbar gestritten, und sie war so wütend, daß sie einfach aus dem Haus lief, obwohl es stockdunkel war, und sich auf ihr Pferd schwang. Er – James – rannte hinter ihr her. Sie brüllten einander an, das Pferd wurde scheu, schlug aus und traf ihren Vater am Kopf.»
«Das muß ein richtiges Trauma für Ihre Schwester gewesen sein – sie war ja noch so jung und saß selbst auf dem Pferd, als es passierte. War Ihre Schwester denn sehr verwöhnt? Und wurde sie sehr gegängelt?»
«Verwöhnt? Nein, eigentlich nicht. Sie hat sich nur oft mit James gestritten. Was das Gängeln betrifft, so hatte sie eben ihre Kindermädchen und alles, was dazugehört. James war ziemlich streng. Wie ich schon sagte, noch von der alten Sorte. Natürlich hat Vivian sehr unter dieser Sache gelitten, vielleicht hat es sogar …» Sie verstummte und nahm die schon halbverglühte Zigarette aus dem gläsernen Aschenbecher.
«Vielleicht hat es sogar was –»
Isabel blies eine dünne Rauchsäule in die Luft. «Sie geistig etwas verwirrt.» Seltsamerweise waren das genau die Worte Lady Ardrys. «Glauben Sie, Ihre Schwester leidet unter einer Psychose?»
«Nein. Das wollte ich nicht damit sagen. Sie ist aber ein ziemlicher Einzelgänger. Sie fragen sich vielleicht, warum wir aus London weggezogen sind. Meine Idee war das nicht. Sie sitzt immer nur herum und schreibt Gedichte.»
«Aber deswegen ist sie doch nicht geistig verwirrt. So seltsam ist das doch nicht.»
«Warum meinen die Leute nur immer, sie müßten Vivian beschützen, selbst wenn sie sie überhaupt nicht kennen?» Ihr Lachen wirkte gezwungen.
Jury erwiderte nichts darauf. «Wurden Sie in dem Testament Ihres Stiefvaters ebenfalls bedacht?»
Ein Schatten flog über ihr Gesicht, ein Schatten wie ein großer, dunkler Vogel. «Darauf wollen Sie also hinaus – Sie wollen wissen, was passiert, wenn Vivian das Geld kriegt. Wenn Sie annehmen, sie würde mich in den Schnee setzen, dann täuschen Sie sich aber gewaltig.»
Jury musterte sie noch einmal kurz, steckte sein Notizbuch ein und erhob sich. «Ich danke Ihnen, Miss Rivington. Ich will mich wieder auf den Weg machen.»
Als er ihr zur Tür folgte, versuchte Jury, sich die Geographie Schottlands und eine Bemerkung, die ein Maler über das Licht dort gemacht hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Irgend etwas schien ihm an ihrer Geschichte von dem Tod James Rivingtons nicht koscher zu sein.
Jury holte tief Luft und betrachtete die Spuren, die seine Stiefel auf der dünnen Kruste frisch gefallenen Schnees hinterlassen hatten; er blickte sehnsüchtig auf die glitzernde, weiße Fläche des Dorfplatzes. Als er die Straße überquerte, bemerkte er auf der Brücke zwei Kinder von ungefähr acht oder neun Jahren; sie rollten den Neuschnee entlang der grauen Steinbalustrade zu dicken Kugeln. Es war eine merkwürdige kleine Brücke mit zwei halbkreisförmigen Bögen. Als er sie überquerte, sagte er den Kindern feierlich guten Tag und fragte sich, wie man sich wohl in diesem Alter fühlte; er erinnerte sich an die von der Kälte geröteten Wangen und die Haare, die wie nasse Zapfen vom Kopf abstanden. Nach ungefähr hundert Metern, als er sich noch einmal nach ihnen umdrehte, bemerkte er, daß sie ihm folgten. Sie blieben sofort stehen und taten so, als würden sie eine der gestutzten Linden entlang der Hauptstraße inspizieren.
Er machte kehrt und holte sie gerade noch ein, bevor sie Reißaus nehmen konnten. Offensichtlich wußten sie, wer er war. Er versuchte, ein strenges Gesicht aufzusetzen, zog seinen Dienstausweis in dem abgetragenen Lederetui hervor und schwenkte ihn. «He, ihr beiden, seid ihr mir gefolgt?»
Sie rissen die Augen auf, und das Mädchen preßte die Lippen aufeinander. Beide schüttelten heftig die Köpfe.
Jury räusperte sich und sagte in einem sehr offiziell klingenden Ton: «Ich wollte gerade in das Café da drüben», er zeigte auf die Bäckerei, «und frühstücken. Da gibt’s bestimmt auch Schokolade; ich würde euch gern ein paar Fragen stellen, wenn ihr mitkommen wollt.»
Der Junge und das Mädchen starrten einander an; jeder forschte in dem Gesicht des andern nach einem Zeichen der Zustimmung. Dann blickten sie wieder zu Jury hoch, und in ihren Gesichtern spiegelten sich Angst, Verwirrung und Versuchung. Die Versuchung war jedoch zu groß. Sie nickten und trabten mit Jury in ihrer Mitte auf den Platz zu.
Das Torweg-Café und die Bäckerei befanden sich in einem kleinen Haus aus Stein, das seinen Namen einem Tor mit einem schmalen, runden Bogen verdankte, durch den man zur St.-Rules-Kirche hochgehen konnte; es war eine ziemlich kurze Gasse, die direkt von dem Platz abging. Das Café lag auf der Höhe des Bogens, die Bäckerei in dem Stockwerk darunter.
Ungefähr die Hälfte des Platzes war von fliesengetäfelten Fachwerkhäusern umgeben, deren obere Stockwerke über einen schmalen Gehweg, die äußere Umgrenzung des Platzes, ragten. Auf der Westseite des Platzes standen weitere kleine Häuser, darin unter anderem ein Süßwarengeschäft, ein Textilwarenladen und ein Postamt. Die meisten Läden waren jedoch vor der Brücke; diese hier hatten sich in dem ruhigeren Teil des Ortes eingeschmuggelt. Sie waren so kunterbunt gemischt, als hätte sie ein Kind zusammengeklebt.
Jury stellte sich den Platz im Sommer sehr grün und schattig vor.
In der Mitte war ein kleiner Ententeich, und er konnte aus der Entfernung erkennen, daß die Enten sich alle auf einer Seite versammelt hatten und wie Bojen im Schilf schaukelten. Es schneite inzwischen etwas stärker, und der Platz bot die verführerischste Fläche von glitzerndem, verharschtem und völlig unberührtem Schnee dar, die Jury je gesehen hatte. Keine Abdrücke, keine Spuren. Jury blieb stehen; er sagte sich, daß es ein schlechtes Beispiel für die Kinder wäre, wenn ihr Mann vom Scotland Yard, dieser Bastion von Gesetz und Ordnung, einfach quer über die Anlage ginge, wo es doch genug Gehwege gab, die darum herumführten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, daß beide zu ihm aufblickten und darauf warteten, daß er sich in Bewegung setzte. Die Wege Scotland Yards waren unergründlich und würden es immer bleiben.
Jury hustete, schneuzte sich und fragte dann streng: «Was wißt ihr über die Auswertung von Spuren? Von Fußspuren? Ihr erinnert euch nicht zufällig, welche in der Nähe der Hammerschmiede gesehen zu haben? Irgendwelche komischen Spuren? Ungefähr so groß?» Jury drückte seinen überdimensionalen Gummistiefel fest in den frischen Schnee über dem Rasen. Ein wundervolles Knirschen ließ sich vernehmen.
Ihre Blicke wanderten von dem riesigen Schuhabdruck zu Jury, und sie schüttelten wieder die Köpfe. Er dachte, er könnte ihnen bei dieser Gelegenheit gleich noch etwas beibringen. «Könnt ihr von den Fußspuren ablesen, ob jemand gegangen oder gerannt ist?» Verwundert bewegten sie ihre kleinen Köpfe hin und her. «Wollt ihr in dieser Sache Scotland Yard ein bißchen helfen?»
Die Köpfe gingen nun mit derselben Vehemenz auf und ab.
«Wunderbar. Wie heißt du denn?» fragte er den Jungen.
«James.» Der Junge spuckte den Namen aus und preßte dann die Lippen aufeinander, als hätte er ein Geheimnis verraten.
«Gut. Und du, wie heißt du?»
Das Mädchen senkte jedoch nur den Kopf und zerdrückte ihren Mantelsaum.
«Hmmm. Wohl auch James. Wunderbar, James und James.» Er dachte, sie würde ihn korrigieren, aber sie hielt einfach nur den Kopf gesenkt, obwohl er glaubte, ein Lächeln bemerkt zu haben, das wie eine Maus über ihre herabgezogenen Mundwinkel huschte.
«Und jetzt hört gut zu. Vielleicht ist das noch einmal sehr wichtig.
Du James, du rennst, so schnell du kannst, zu dem Ententeich und wartest dort. Und du, James –» er hatte die Hand auf die Schulter des Mädchens gelegt – «du gehst ganz gemütlich auf den Teich zu. Ab und zu beschreibst du einen Kreis.»
Sie blickten ihn an, als warteten sie nur noch auf den Startschuß, und als er dann mit dem Kopf nickte, sprintete der Junge los, Wolken von Schnee hinter sich aufwirbelnd. Das Mädchen marschierte ganz langsam und bedächtig los; sie setzte die Füße fest auf und beschrieb hin und wieder einen sich weitenden Kreis. Jury suchte sich eine glatte, unberührte Fläche aus und stapfte so geräuschvoll wie nur möglich darüber. Als er den Teich erreichte, erwartete ihn der Junge hechelnd vor Erschöpfung, während das Mädchen noch ihre Kreise drehte. Schließlich schraubte sie sich bis zu ihnen vor.
Alle drei standen nun zusammen und betrachteten ihr Werk.
«Ausgezeichnet», sagte Jury. «Schaut euch mal die Spuren an, die James beim Rennen hinterlassen hat; er ist nur mit dem vorderen Teil seiner Stiefel, nur mit dem Ballen aufgetreten. Und dann schaut euch diese an», er ging in die Hocke und fuhr mit seinem behandschuhten Finger den Fußeindruck des Mädchens nach – «Seht ihr, wie das Gewicht sich nach außen verlagert, wenn man in einem Kreis geht?»
Beide nickten nachdrücklich.
«Und nun noch ein Rätsel.» Jury und die Kinder gingen um den Teich herum. Die Enten ließen sich nicht stören; sie nahmen nicht einmal die Köpfe unter den Flügeln hervor. Er blickte über die noch unberührte, verharschte Schneedecke und sagte: «Wir gehen jetzt alle drei zur Straße zurück, und zwar in einem Abstand von anderthalb Metern, damit jede Spur für sich ist. Los geht’s.»
In zwei oder drei Minuten waren sie dort; sie drehten sich um und blickten zurück. Jury fühlte sich wunderbar, wie ein Süchtiger, der sich gerade eine Spritze verpaßt hat. Er mußte ein Grinsen unterdrücken, als er über die zertrampelte Rasenfläche blickte; das makellose, glitzernde Weiß war nur noch ein Gewirr von schwarzen Abdrücken und Löchern.
Einen Augenblick lang, während sie ihn anstarrten, konnte er sich nicht mehr erinnern, was er ihnen eigentlich beibringen wollte. Ach ja, das Rätsel. «Angenommen, hier direkt vor uns liegt eine Leiche.» Das Mädchen versteckte sich hinter ihm und hielt sich an seinem Mantel fest. «Und angenommen die drei Leute, die diese Spuren gemacht haben, sind wieder an dem Ententeich: Wie konnten sie das schaffen, ohne Fußspuren zu hinterlassen, die in diese Richtung gehen?» Es war das altbekannte Reichenbach-Falls-Eröffnungsmanöver, aber er nahm nicht an, daß die beiden «Die Schlußrunde» gelesen hatten. Außerdem hat er sich nicht besonders verständlich ausgedrückt. Jury kratzt sich am Kopf. Warum sollte der Verdächtige überhaupt zum Teich zurückgehen wollen?
Keiner wußte eine Antwort. Er drehte sich um und ging ein paar Schritte rückwärts. «So!»
Der Junge grinste übers ganze Gesicht und zeigte dabei eine riesige Zahnlücke. Das Mädchen kicherte, hielt sich aber sofort die Hand in dem Fausthandschuh vor den Mund.
Jury hob den Finger wie ein Lehrer, der die Aufmerksamkeit seiner Schüler erregen will. «Merkt euch also: Bei einem Mord –» sie schnappten nach Luft bei diesen Worten – «gibt es immer was Komisches, etwas, was nicht stimmt.» Er wünschte nur, dem wäre auch so; es klang zu sehr nach Lehrbuch. «Ich danke euch für eure Hilfe. Gehn wir rein. Da ist das Café.» In der Ecke des oberen Erkerfensters hing ein kleines, weißes Schild, auf dem in hübscher Schreibschrift Frühstück wird jetzt serviert stand. Sie gingen das dunkle Treppenhaus zum ersten Stock hoch, eingehüllt von dem Duft nach Frischgebackenem. Als sie sich aus ihren nassen Jacken und Mänteln geschält hatten, kam eine ältere Frau, die so appetitlich aussah wie die Obsttörtchen in der Auslage, hinter dem Vorhang in den rückwärtigen Teil hervor. Jury bestellte Kaffee, heiße Schokolade und einen Teller mit Toastbrot; dann vervollständigte er das Ganze noch durch Kuchen, Gebäck, Marmelade und Schlagsahne.
«Also, dann mal los», sagte Jury aufmunternd und rieb sich die zum Kamin hingestreckten Hände, an dem ihnen die Frau freundlicherweise einen Tisch angeboten hatte. Der Junge riß die Augen auf und grinste; sein schneeverklebtes Haar stand noch wilder vom Kopf ab. Das Mädchen senkte den Kopf und starrte auf die glänzende Tischfläche, als würde sie selbstverliebt ihr Spiegelbild betrachten. Jury störte es nicht, daß sie so schweigsam waren. Er hatte nicht erwartet, von ihnen einen Vortrag über die Molekülstruktur des Universums zu hören.
Endlich kamen auch Kaffee und Kuchen, mit frischer Schlagsahne, Marmelade und Butterbrötchen, genug, um ihre Gesellschaft mehrmals zu verköstigen. Die beiden James mußten nicht lange aufgefordert werden, zuzugreifen. Der Junge hielt in der einen Hand ein Brötchen, in der andern ein Stück Kuchen und biß abwechselnd mal in das eine, mal in das andere. Das Mädchen nahm sich mit ihren flinken kleinen Mausefingern ein Obsttörtchen und knabberte so atemlos daran, als würde sie sofort in ihr Loch zurückhuschen, wenn Jury auch nur einen Pieps von sich gäbe.
Bevor die ältere Frau sich wieder zurückziehen konnte, holte Jury seinen Ausweis hervor und fragte sie nach Miss Ball, der Besitzerin.
Der Effekt war dramatisch. Ihre Wangen fingen an zu glühen, und sie hielt erschreckt die Hand vors Gesicht. Die Schuldigen fliehen, dachte Jury und seufzte, auch wenn keiner sie verfolgt, aber die Unschuldigen fliehen auch.
«Einen Augenblick, Sir», sagte sie und ging rückwärts zur Tür.
Die Kinder hatten den Kuchenteller beinahe leer gegessen, und Jury dachte, daß ihnen wahrscheinlich schlecht werden würde, aber schließlich war Weihnachten, und sie sahen nicht so aus, als würden sie mit Süßigkeiten verwöhnt. Er war gerade dabei, sich noch etwas Kaffee nachzugießen, als eine Frau in einer Schürze hereinkam; Miss Ball, wie er annahm. Eigentlich kam sie gar nicht herein; es sah vielmehr so aus, als hätte sie alles niedergewalzt – Hunde, Katzen –, um sich einen Weg zu ihm zu bahnen, dem längst überfälligen Besucher.
«Sie sind also Oberinspektor Jury vom New Scotland Yard?»
Er erhob sich und streckte seine Hand aus. «Ja, der bin ich – Miss Ball?»
Miss Ball nickte, als wäre sie entzückt, Miss Ball zu sein. Sie nahm Platz. «Ich war unten in der Backstube bei meinen Christstollen – es gibt so viele Bestellungen, übermorgen ist ja auch schon Weihnachten, und –» Sie verstummte, als sie Jurys Frühstücksgäste bemerkte. «Das sind doch die Doubles. Wo haben Sie denn die aufgelesen?» Ohne Jurys Antwort abzuwarten, fuhr sie fort, «ich weiß, Sie sind wegen dieser schrecklichen Morde hier –»
Als hätten sie plötzlich bemerkt, daß sie mit Kuchen und Schokolade in das Café gelockt worden waren, tauschten die Doubles ein paar kurze Blicke aus und sprangen auf. «Wir müssen gehn. Wirklich. Unsere Mammi wird sonst fuchsteufelswild», sagte James und entfernte sich ein paar Schritte vom Tisch. Für James war das eine ziemlich lange Rede. Das Mädchen hatte die Augen immer noch auf den Kuchenteller geheftet. Bevor auch sie weglief, schlich sie noch einmal zu Jury und kniff ihn in den Arm; wahrscheinlich kam das für sie einem Kuß am nächsten. Dann schnappte sie sich das letzte Stück Kuchen von dem Teller und stürzte zur Tür.
Betty Ball verzog ihren schmallippigen Mund und sagte: «Sie haben sich nicht einmal bei Ihnen bedankt! Diese Jugend von heute!»
Jury lächelte und wunderte sich über die seltsamen Vorstellungen der Erwachsenen. Dann sagte er: «Miss Ball, wie ich hörte, haben Sie an dem Abend, an dem, hmm, an dem die Leiche gefunden wurde, etwas bei Mr. Matchett abgeliefert. Oder vielmehr kamen Sie schon am Nachmittag.» Sie nickte. «Und Sie gingen durch den Hintereingang?»
«Ja. Das mache ich immer. Die Küche ist auch hinten.»
«Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen, irgendeine Veränderung?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Auch nichts an der Kellertür?»
«Wie ich dem Superintendent schon sagte – ich sah weder Licht im Keller noch sonst was.» Sie drehte sich plötzlich um und rief nach Beatrice, die dann auch hinter dem Vorhang erschien, eine schlaksige, kaugummikauende Halbwüchsige. «Beeil dich, Mädchen! Bring dem Inspektor noch etwas Kaffee. Fürs Rumsitzen und Rumschmökern wirst du nicht bezahlt.»
Beatrice, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Betty Ball aufwies, kam an ihren Tisch geschlendert. Jury ließ sich etwas Kaffee nachgießen, lehnte aber die frischen Brötchen ab, die Betty Ball ihm anbot. Betrübt blickte sie ihn aus ihren zitronatfarbenen Augen an, als wären ihre Backwaren das einzige Bollwerk gegen das Dasein einer alten Jungfer.
«Es hat doch ziemlich gegossen, Miss Ball? Wie ich hörte, war es ein richtiges Gewitter.»
«Ja, das stimmt. Allein vom Auto bis zur Küche und wieder zurück wurde ich schon klatschnaß. Haben Sie eigentlich schon mit Melrose Plant gesprochen? Ein kluger Kopf, wirklich, glauben Sie mir.» Jury hörte ihre Lobreden auf Melrose, sah wie ihre Augen aufleuchteten und fragte sich, ob er der Prinz des Aschenbrödels sei.
Als Jury das Torweg-Café verließ, wies der Platz wieder eine makellose Schneedecke auf. Nur bei genauerem Hinschauen entdeckte er die Spuren, die er und die Kinder hinterlassen hatten, aber wie er an den Eindrücken in seiner Nähe beobachten konnte, schlossen sie sich wie Löcher im Teig. Der Wind hatte sich gelegt und trieb den Schnee nicht mehr vor sich her; die Flocken fielen wieder langsam und gleichmäßig und waren genau so dick und naß wie am Morgen. Jurys Blick fiel auf den Turm der St.-Rules-Kirche, und er beschloß, den Pfarrer etwas später aufzusuchen. Ein langer Spaziergang im Schnee – die anderthalb Kilometer bis zu den Bicester-Strachans und Ardry End – war genau das, was er brauchte. Er dachte an all die frischen Spuren, die er hinterlassen würde.
Gleich nach dem Ort begann das Land. Die Hecken trugen wilde Bärte aus Schnee und Eis. Wäre er ein Schriftsteller gewesen, hätte er sich bestimmt zu einer Hymne auf englische Hecken hinreißen lassen, auf diese endlos langen Wälle aus Eiben, Heckenrosen oder Blutbuchen, die ein wahres Paradies für all die Pflanzen waren, die der Pflug von den Feldern vertrieben hatte, wie auch für zahllose Vogelarten. Jury seufzte, während er mit seinen nassen, schwarzen Stiefeln weiterstapfte und einen Fasanenhahn aufscheuchte, ein Wirbel aus Grün und Kastanienbraun, der vor ihm in die Höhe schoß. Jurys Gesicht war schon ganz starr vor Kälte, und die Aussicht auf ein prasselndes Kaminfeuer und ein Glas alten Portwein war ihm nicht gerade unangenehm.
Statt dessen begrüßte ihn die Stimme von Lorraine Bicester-Strachan, die auf ihrer kastanienbraunen Stute thronte. «Wenn Sie wegen der Geschirrspülmaschine gekommen sind, könnten Sie dann bitte den Hintereingang benutzen?»
Jury hatte gerade die Hand auf den schweren Türklopfer aus Messing gelegt, als er etwas um die Ecke trappeln hörte. Er hatte sich umgedreht und Pferd und Reiterin zwischen den Bäumen auftauchen sehen. Er war überzeugt, daß Mrs. Bicester-Strachan ihn nicht für den Handwerker hielt, als sie ihn auf der Treppe ihres Hauses stehen sah. Er trug weder entsprechende Kleidung, noch war ein Lieferwagen in seiner Nähe geparkt. Wahrscheinlich gehörte es zu ihren Gewohnheiten, Leute vor den Kopf zu stoßen.
Er tippte höflich gegen seinen Hutrand.«Inspektor Richard Jury, New Scotland Yard.Ich würde mich gerne mit Ihnen und Ihrem Mann unterhalten, wenn das möglich ist.»
Sie stieg ab, entschuldigte sich aber nicht. Im selben Augenblick ging die Tür auf, und Jury blickte in das Gesicht eines älteren Mannes von seiner Größe und Statur, der ihn aber überragt hätte, wenn er sich aufrecht gehalten hätte.
«Oh, entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie hier rumstehen lasse. Ach, meine Frau hat Sie schon entdeckt –» Er setzte einen an einem Ripsband befestigten Zwicker auf.
Als Lorraine sie einander vorstellte, kam ein vermummter Junge um das Haus und führte das Pferd weg.
«Wir hatten gerade einen gewissen Pratt zu Besuch. Er kam von der Polizei in Northampton», bemerkte Willie Bicester-Strachan, als Jury seinen Mantel ablegte.
«Ja, ich weiß, ich habe aber auch noch ein paar Fragen, Mr. Bicester-Strachan.» Sie gingen in den Salon, der auf Jury einen ziemlich kalten und steifen Eindruck machte. Das Mobiliar sah zwar teuer, aber nicht sehr gemütlich aus, und als Lorraine Bicester-Strachan sich ihm zuwandte, machte sie auf ihn genau denselben Eindruck. Sie trug ihre Reitkleidung – eine schwarze Melton-Jacke, glänzende Stiefel. Als sie ihre Samtkappe abnahm, bemerkte Jury, daß ihr Haar betont altmodisch im Stil der zwanziger Jahre frisiert war. Es bauschte sich um ihr Gesicht und war auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengesteckt. Ihre Haut schimmerte elfenbeinfarben, und ihre Augen waren schwarz wie Onyx. Sie wirkte wie ein Mannequin aus einem Modejournal, kalt, aber von einer attraktiven Herbheit und Strenge.
«Sollten wir dem Inspektor nicht einen Drink anbieten, Liebling?» sagte Willie Bicester-Strachan.
«Trinkt denn Scotland Yard?» fragte sie mit gespielter Verwunderung, während sie sich aus einer Kristallglaskaraffe ein Glas Sherry eingoß.
Verärgert durch diese Sammelbezeichnung hätte Jury am liebsten gleich zwei runtergekippt, aber er besann sich und setzte eine ausdruckslose Miene auf. Er wußte jedoch, daß ihm der Ärger im Gesicht geschrieben stand. Schon während seiner Ausbildung war ihm diese ausdruckslose Miene nie richtig gelungen. Bicester-Strachans höfliche Aufforderung, doch einen Drink zu nehmen, lehnte er ab. Lorraine drückte den Stöpsel in die Karaffe und ging mit ihrem Glas zu einem rosa Samtsessel. Sie machte es sich darin bequem; die Beine hatte sie auf eine schlaksige, jungenhafte Art von sich gestreckt und an den Knöcheln überkreuzt. «Wir haben es doch mit Oberinspektor Jury zu tun? Warum so bescheiden?» Sie hob ihr Glas ganze zwei Zentimeter, um ihn willkommen zu heißen.
«Ich wette, Sie wußten ganz genau, daß ich nicht der Klempner war.»
Sie machte einen leicht verlegenen Eindruck, aber ihre Arroganz gewann schnell wieder die Oberhand. «Oh, ich hab’s mir zusammengereimt. Hier spricht sich alles ziemlich schnell herum. Es ist nur irgendwie lästig, auf Schritt und Tritt der Polizei zu begegnen; man könnte meinen, sie wären hier zu Hause. Und dieser Superintendent Pratt war eine ziemliche Nervensäge, gelinde ausgedrückt.»
«Sie scheinen diese Verbrechen eher als eine Belästigung aufzufassen.»
Sie zuckte mit den Schultern. «Was erwarten Sie – daß ich in Tränen ausbreche?»
«Ich muß doch bitten, Lorraine», sagte ihr Mann; er hatte sich in einem Sessel beim Kamin niedergelassen, vor dem ein kleiner Tisch mit einem Schachbrett stand. Er senkte den Kopf, als würde er sich eine Strategie zurechtlegen.
«Ich würde von Ihnen gern hören, was sich an den beiden Abenden, am siebzehnten und achtzehnten, abgespielt hat.»
«Am besten, ich sag’s Ihnen gleich», meinte Lorraine, «ich war so betrunken, daß ich mich nur noch ganz verschwommen daran erinnere.»
«Sie erinnern sich also nicht, wer zwischen neun und elf in dem Speiseraum war und wer nicht?»
«Ich weiß nicht einmal, ob ich in dem Speiseraum war», sagte Lorraine.
Bicester-Strachan hob den weißhaarigen Kopf. «Ich saß mit dem Pfarrer – Mr. Smith – bei einem Damespiel. Was meine Frau getrieben hat, weiß ich nicht», fügte er trocken hinzu.
«Ich saß eine Weile bei Oliver – Oliver Darrington – am Tisch und später bei Melrose Plant, bis ich schließlich seinen Snobismus nicht mehr ertragen konnte –»
«Wie ungerecht, Lorraine. Wenn du Plant für einen Snob hältst, dann verstehst du diesen Mann überhaupt nicht.»
Sie hatte ihr Glas wieder aufgefüllt und stand nun neben dem Kamin; ihre Hand lag auf dem Sims, und ihr Fuß ruhte auf dem Kamingitter. «Plant ist ein Anachronismus, wie man ihn nur in England findet. Es fehlt nur noch das Monokel, dann wäre er perfekt.»
«Aber wie erklären Sie sich», fragte Jury, «daß jemand mit einem so ausgeprägten Statusdenken auf seinen größten Trumpf verzichtet? Ich meine, den Adelstitel?»
Bicester-Strachan gluckste beifällig. «Was sagst du nun, Lorraine?»
Sie beharrte jedoch auf ihrer Position. «Melrose Plant gehört zu der Sorte, die so etwas macht, nur um sich von seinen Schwert und Halskrause tragenden Vorfahren zu unterscheiden.»
«Ich habe diesen Zug ziemlich bewundert», sagte Bicester-Strachan und blickte lächelnd auf das Schachbrett, als säße Plant ihm gegenüber.
«Plant ist ein Mann von Charakter, Plant ist Plant. Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat, Inspektor? Er meinte, er habe bei den Sitzungen des Oberhauses immer das Gefühl, sich in einer Pinguinkolonie zu befinden.»
Jury lächelte, während Lorraine das überhaupt nicht komisch zu finden schien. «Es beweist nur, daß ich recht habe», sagte sie.
Jury bemerkte, daß ihr das Blut ins Gesicht gestiegen war. Wenn eine Frau so über einen Mann herzog, bedeutete das meistens, daß sie keinen Erfolg bei ihm gehabt hatte. «Können Sie sich noch erinnern, wann Sie mit Mr. Plant zusammensaßen?»
«Das ist praktisch unmöglich; die Leute wechselten dauernd die Tische, und ich habe die einzelnen nicht im Auge behalten. Es gab nur zwei ruhende Pole, meinen Mann und den Pfarrer, Hochwürden Denzil Smith. Der ist ein Fall für sich, eine wandelnde Trivialitätensammlung; er weiß einfach alles über Long Piddleton und die Gasthäuser der Umgebung, und er redet einem ständig die Ohren voll mit diesen Geschichten – wie viele Gespenster in ihnen umgehen oder wie viele geheime Verstecke sie haben –»
«Denzil ist ein Freund von mir, Lorraine», sagte Bicester-Strachan, die Augen auf das Schachbrett geheftet. Nachdenklich machte er einen Zug mit seinem Läufer.
«An dem Abend, als der zweite Mord passierte, waren Sie da auch in der Hammerschmiede?»
«Ganz kurz nur. Eine halbe Stunde ungefähr», sagte Lorraine.
«Und haben Sie mit dem Opfer gesprochen?»
«Nein, natürlich nicht», sagte sie. «Wer diese Verbrechen begangen hat, muß einen ausgeprägten Sinn für schwarzen Humor haben, finden Sie nicht?»
«Gewöhnlich bringt man Leute nicht zum Spaß um. Sie hatten also keinen dieser beiden Männer schon einmal gesehen, Mr. Bicester-Strachan?»
Er schüttelte den Kopf. «Soviel ich weiß, kannte sie niemand in Long Piddleton. Sie waren absolut fremd hier.»
«Sie haben früher in London gelebt?» Jury vergegenwärtigte sich Pratts Bericht. «In Hampstead, soviel ich mich erinnere?»
«Sie wissen ja gut Bescheid über uns, Inspektor», sagte Lorraine.
Etwas in ihrer Stimme ließ ihn zögern. Die Pause, die daraufhin entstand, mußte ihr sehr vielsagend vorgekommen sein. «Sollte ich etwa einen Anwalt hinzuziehen?»
«Meinen Sie denn, Sie könnten einen gebrauchen?»
Lorraine Bicester-Strachan setzte ihr Glas mit einem völlig unnötigen Kraftaufwand ab und verschränkte die Arme fest über der Brust, als wolle sie einen Angriff auf ihre Ehre und Intimsphäre abwehren. Nervös wippte sie mit dem rechten Bein in dem schwarzglänzenden Lederstiefel.
«Wir sind hierhergezogen, weil es so ein pittoreskes kleines Dorf ist, das gerade erst entdeckt wurde – von Schriftstellern, Künstlern und so weiter. Nach Cotswolds geht inzwischen ja keiner mehr. Diese Märchenwald-Ästhetik ist wohl etwas passe. Ich habe zwei Hobbies – ich reite und male.» Sie machte eine ausholende Armbewegung, die vier Wände voll miserabler Bilder einschloß. Es waren schlecht gemalte Seestücke mit tosenden Wellen, in denen knorrige Äste herumwirbelten. Sie hatte nicht einmal ein Auge für die Schönheit der Landschaft, die sie umgab. Das Dorf mußte ein Traum für einen Künstler sein.
«Etwas langweilig nach London, oder nicht?»
«Wir hatten genug von London. Es ist nicht mehr wie früher. Man könnte glauben, man ist in Arabien oder Pakistan, wenn man die Oxford Street entlanggeht –»
«Warum sagst du nicht die Wahrheit, Lorraine?» meinte Willie Bicester-Strachan unter seinen gefalteten Händen hervor, die den über das Schachbrett geneigten Kopf abstützten.
«Was redest du denn da, Willie?» Die abweisende elfenbeinfarbene Maske war gefallen, und ihre Stimme klang unnatürlich hoch.
«Der eigentliche Grund, weshalb wir hierherzogen –» Bicester-Strachan blickte nicht einmal von seinem Schachbrett hoch. «Wir – ich – hatten in London eine unangenehme Sache am Hals. Aber vielleicht haben Sie das schon in Erfahrung gebracht?» Er blickte auf und lächelte; es war aber kein sehr glückliches Lächeln.
Wie von der Tarantel gestochen fuhr Lorraine aus ihrem Sessel hoch. «Ich dachte, damit wäre endlich Schluß – die Zeitungen, die Reporter, diese ganze Chose – deshalb sind wir ja aus London weggezogen. Und jetzt geht das wegen dieser verdammten Morde wieder von vorne los.»
Sie schien zu glauben, die Morde seien nur begangen worden, um sie zu ärgern. Bicester-Strachan kümmerte sich jedoch nicht weiter um ihren Ausbruch, und Jury erkannte, daß trotz ihrer Arroganz und der vertrottelten, geistesabwesenden Art, die sich ihr Mann zugelegt hatte, Willie Bicester-Strachan doch der Stärkere von beiden war.
«Vor ein paar Jahren arbeitete ich für die Regierung. Im Verteidigungsministerium, Inspektor. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich auf Einzelheiten verzichte –»
«Mein Gott, Willie! Das ist doch lächerlich. Warum gräbst du denn das wieder aus?»
Bicester-Strachan machte jedoch nur eine ungeduldige Handbewegung. «Das ist Scotland Yard, Lorraine, sei vernünftig.»
Vernunft schien offensichtlich nicht Lorraines Stärke zu sein. Jury fragte: «Und dann ist etwas passiert?»
«Allerdings. Es wurde aber nicht richtig publik, weil ich es vorzog, mein Amt aufzugeben, bevor der Skandal in der Öffentlichkeit ausgewalzt wurde. Ich beging – es ist mir ziemlich peinlich, darüber zu sprechen – eine Indiskretion; ich gab eine Information weiter, die ich nicht hätte weitergeben dürfen. Glücklicherweise war ich selbst falsch informiert gewesen, was ich aber nicht wußte.» Er lächelte gequält. «Deshalb wurde ich auch nicht angeklagt.»
«Weitergegeben – an wen?»
«Das spielt doch keine Rolle, Inspektor.»
Jury wollte nicht weiter in ihn dringen; allein die Sache zu erwähnen war für Bicester-Strachan schon äußerst unangenehm gewesen. «Ich weiß nicht, Mr. Bicester-Strachan.» Geheimnisse aus der Vergangenheit hatten schon mehr als einen Mord motiviert. Jury erhob sich. «Ich mache mich wieder auf den Weg. Vielen Dank einstweilen. Vielleicht muß ich Ihnen irgendwann noch einmal ein paar Fragen stellen.»
Bicester-Strachan war ebenfalls aufgestanden und gab Jury die Hand. «Es ist wirklich eine üble Geschichte. Und das in einem so friedlichen Dorf – na ja, leben Sie wohl.»
«Auf Wiedersehn.»
«Ich begleite Sie noch hinaus», sagte Lorraine.
An der Tür fragte sie ihn: «Und wohin gehen Sie jetzt?»
«Nach Ardry End.»
«Aha, mit ihm werden Sie Ihren Spaß haben. Wo sind Sie denn untergebracht?»
«In der Büchse der Pandora.» Um ihre Reaktion zu sehen, sagte er: «Ich habe gehört, daß Miss Rivington – Vivian – mit dem Besitzer verlobt ist.»
Sie erstarrte, als hätte man ihr einen Peitschenhieb versetzt. «Simon Matchett? Und Vivian? Das ist doch absoluter Blödsinn.» Sie beruhigte sich etwas. «Sie haben bestimmt mit Agatha gesprochen. Sie hat nur ein Ziel im Leben – Vivian von Melrose fernzuhalten. Wahrscheinlich, um sich ihr sogenanntes Erbe zu sichern. Vivian gehört zu den ganz Scheuen. Sie ist so unbeholfen, daß ich es ermüdend finde.»
«Hmm, nochmals vielen Dank, Mrs. Bicester-Strachan.»
«Lorraine.»
Jury lächelte nur und wandte sich erleichtert dem frisch gefallenen Schnee zu.